Verdrängt vernetzter automatisierter Straßenverkehr die große Freiheit des Motorrad- und Rollerfahrens? Oder beschert uns Motorradfahrern die große Verkehrs-Digitalisierung sogar mehr Freiheit durch Unstürzbarkeit und Unfallfreiheit?
BMW Motorrad präsentierte im Rahmen des einhundertjährigen Marken-Jubiläums und des damit verbundenen Blicks in die Zukunft „Vision Next 100“ ein spektakuläres Motorrad-Modell: „The Great Escape“ - die Idee eines extrem sicheren, intelligenten und selbstredend vernetzten Bikes, das automatisch gefahren, gebremst und angehalten werden könnte, Fahrerin und Fahrer bräuchten im Stand aufgrund der Kreiselstabilisatoren nicht einmal die Füße von den Rasten zu nehmen. Auch Schutzkleidung oder Helme sind – außer zum Wetterschutz – nicht mehr nötig, da Unfälle aufgrund umfassender Vernetzung nicht mehr vorkommen
Fahrerinnen und Fahrer der „Great Escape-Vision“ wählen zwischen reinem Selbstfahrerlebnis mit sozusagen behütendem Eingriff vor zu schnell angegangenen Kurven oder beherzten Überholmanövern und dem prozessgesteuerten vollautomatisierten Fahren.
Ist das Fiction oder Vision oder doch viel näher an der Wirklichkeit, als die meisten Motorradfahrer es sich vorstellen können? Immerhin existieren regierungsamtliche Roadmaps, die das halbautomatisierte Fahren von LKW und PKW ab 2020 sowie das automatisierte Fahren (ohne Fahrerbeteiligung) ab 2030 vorsehen. Brauchen wir Motorradfahrer dann einfach nur Updates bestehender digitaler Fahrerassistenzsysteme – oder sind wir raus?
Letzteres natürlich nicht. Denn BMW, Honda und Yamaha arbeiten als Gründungsmitglieder des Connected Motorcycle Consortiums (CMC) an der Einführung des Cooperative Intelligent Transport Systems (C-ITS) für motorisierte Zweiräder. Hennes Fischer von Yamaha Motor Europe N.V. befasst sich mit dem Thema „Motorräder im vernetzten Verkehr“ und ist Mitglied im CMC und der Motorrad-Arbeitsgruppe des Car-2-Car Communication Consortiums (C2C-CC), sowie Vorsitzender der Arbeitsgruppe ‚ITS‘ beim Verband der Europäischen Motorradindustrie ACEM.
IVM-Performance: Herr Fischer, wird ein in absehbarer Zukunft ausgereiftes Intelligentes Transport System es bei einer optischen akustischen Warnung belassen, wenn ich mich auf dem Motorrad einem in einer Kurve quer stehenden LKW nähere, oder wird es mich bis zum Stillstand abbremsen?
Hennes Fischer: Sie werden einen Hinweis bekommen, dass sich ein Hindernis auf Ihrem Weg befindet. Reagieren müssen Sie selbst. Das wird beim Motorrad noch einige Zeit auch so bleiben.
IVM-Performance: Wird es den von Ihnen beschriebenen DAY1, also den Tag X, geben, an dem das vernetzte Fahren startet, oder wird das ein eher schleichender Prozess, in dem unsere Fahrerassistenzsysteme im Auto und auf dem Motorrad die Kontrolle übernehmen?
Hennes Fischer: Es wird nicht den Tag X geben an dem alles quasi auf Knopfdruck startet. Von einem schleichenden Prozess würde ich auch nicht sprechen. Es handelt sich beim vernetzten Fahren um einen sehr komplexen Prozess, bei dem nicht nur die Fahrzeugindustrie eine Rolle spielt, sondern auch beispielsweise Straßenbetreiber, Infrastruktur, Telekommunikationsunternehmen und natürlich die Politik auf regionaler bis europäischer Ebene. Wir werden durch den vernetzten Verkehr eine Umwälzung sehen und wir werden Individualverkehr neu denken. Solche positiven Umwälzungen kommen nicht über Nacht, sondern sie werden Schritt für Schritt unter Einbeziehung allen Beteiligten, also auch der Motorradfahrer, erfolgen.
Zunächst werden wir mit einfachem Informationsaustausch auskommen müssen. Im Laufe der Entwicklung werden die Informationen, welche die Fahrzeuge austauschen, immer präziser und situationsbezogener werden und mit entsprechenden Assistenzsystemen gekoppelt werden. Beim Motorrad als Einspurfahrzeug werden jedoch Assistenzsysteme schon aufgrund der speziellen Fahrdynamik und der physikalischen Voraussetzungen andere Ausprägungen haben als beim Auto.
IVM-Performance: Für uns Motoradfahrer stehen ja Faktoren wie Freiheit, Individualität, robuste Technik, kurz: pures Motorradfahren im Vordergrund und modernste Fahrerassistenzsysteme werden zunächst milde belächelt. Wie wird also der gute alte Biker fit gemacht für die Zukunfts-Agenden „Halbautomatisiertes Fahren ab 2020“ und „vollautomatisiertes Fahren ab 2030“?
Hennes Fischer: Zunächst sollte ein gutes Assistenzsystem nicht allzu erklärungsbedürftig sein, sondern intuitiv. Wir arbeiten an gemeinsamen Lösungen in der Motorradindustrie, um beispielsweise Warnungen und Meldungen auf dem Cockpit Display unabhängig von der gefahren Marke verständlich zu halten. Darüber hinaus werden Wirkungsweise und Möglichkeiten der Systeme in den Medien thematisiert werden. Da sind wir als Hersteller gefragt, dies mit qualifizierter Presseinformation zu unterstützen. Natürlich spielt der Händler weiter eine wichtige Rolle. Er muss dem Kunden bei der Einweisung in ein neues Motorrad diese Funktionen ausführlich erklären. Wir diskutieren aber auch auf europäischer Ebene, ob die neuen Funktionen nicht Teil der künftigen Führerscheinausbildung werden müssen.
IVM-Performance: In Norwegen erregt soeben ein Unfallgeschehen Aufmerksamkeit, bei dem ein Fahrzeug des amerikanischen E-Car Marktführers im „Autopilot-Modus“ ein Motorrad von der Straße katapultierte und die junge Fahrerin schwer verletzte. Sind Motorräder aufgrund ihres Designs, ihrer schmalen Silhouette, ihrer Dynamik und daraus resultierender unorthodoxer Fahrstile überhaupt in sichere Systemvernetzungen zu integrieren?
Hennes Fischer: Konnektivität spielt beim automatisierten Fahren eine wichtige Rolle. Bei einer Vernetzung von Motorrad und Auto wissen beide Fahrzeuge voneinander. In dem geschilderten Fall mag das bordeigene System, das ja noch nicht vernetzt ist, das Motorrad offensichtlich nicht erkannt haben. Und der Autofahrer hat offensichtlich nicht reagiert, was er hätte tun müssen, denn vollautomatisches Fahren ist bislang in Europa nicht erlaubt. Die Erkennung von Motorrädern mit bordeigenen Sensoren ist natürlich technisch anspruchsvoll, wie von Ihnen bereits dargelegt. Es gibt Forschungsprojekte dazu in die wir als Motorradhersteller involviert werden und es werden in Zukunft homologationsrelevante Anforderungen an solche Fahrzeugsysteme abgeleitet werden.
IVM-Performance: Mit räumlichen Fahrverboten im vernetzten LKW und PKW-Verkehr müssen wir Motorrad- und Rollerfahrer aber nicht rechnen?
Hennes Fischer: Wir sind durch unsere Arbeit im Connected Motorcycle Consortium und als Hersteller in anderen relevanten Konsortien und Plattformen auf europäischer und internationaler Ebene bereits Teil des vernetzten Verkehrs. Wir tragen also Sorge dafür, dass Motorräder nicht als Dinosaurier enden, sondern ganz im Gegenteil, Bestandteil des zukünftigen Individualverkehrs bleiben. Ich sehe daher keinen Grund warum Motorräder anders behandelt werden sollten als Autos oder LKW.
IVM-Performance: Hand aufs Herz, Herr Fischer, die letzte Frage richtet sich an Sie als Motorradfahrer: Was wird sich an dem Erlebnis Motorrad oder Roller zu fahren, in den nächsten 20 Jahren verändern?
Hennes Fischer: Ja, Motorrad fahren wird sich verändern. Aber nicht unbedingt zum Negativen. Motorradfahren wird aufgrund der Vernetzung sicherer werden und ich bin als Motorradfahrer froh, wenn der umgebende Verkehr mich nicht übersieht. Und ich glaube auch, dass das Motorrad nach wie vor eine tolle Art der Fortbewegung bleiben wird, egal ob für Wochenendausflüge, Touren oder im Alltagsverkehr. Mit dem Motorrad finden Sie immer einen Parkplatz und sind bei Stau unabhängiger als mit dem Auto, egal ob im Alltag oder in der Freizeit. Vernetzung wird uns helfen, in Zukunft sicherer unterwegs zu sein und das Motorrad weiter ohne Einschränkung der persönlichen Freiheit genießen zu können.
IVM-Performance: Vielen Dank!